Kallocain | DEUTSCHSPRACHIGE ERSTAUFFÜHRUNG
Veranstaltungsdetails
Regie Swen Lasse Awe Bühne & Kostüme Anna Bergemann Musik Philipp Koelges Dramaturgie Lea Seiz
Mit Ingo Biermann, Anna Eger, Miguel Jachmann, Sarah Siri Lee König, Ruby Ann Rawson, Ioachim-Willhelm Zarculea
Dauer ca. 1:50 Stunden, keine Pause
Was wäre, wenn selbst die Gedanken lesbar wären? In einer nicht allzu fernen Welt, in der es keine Privatsphäre mehr gibt, jede Handlung staatlich überwacht wird und Ehen für gewöhnlich als reproduktive Zweckgemeinschaften geschlossen werden, entwickelt der Chemiker Leo Kall ein Wahrheitsserum: Kallocain. Einmal verabreicht gesteht jede Person ihre geheimsten Gedanken. Mit der neuen Verhörmethode kann der Staat die totale Kontrolle über die Bürger*innen übernehmen. Staatsfeindliche Bestrebungen werden entlarvt, alle sollen auf Linie gebracht werden. Doch es regt sich Widerstand. Manche Menschen suchen Lebenssinn jenseits der offiziellen Doktrin. Auch Leo Kall beginnt zu zweifeln, nach und nach erkennt er, welches Ausmaß seine Erfindung annimmt. Dennoch kann auch er sich nicht von der Macht zur Wahrheit lösen und möchte mit Hilfe von Kallocain herausfinden, wie seine Frau Linda wirklich zu ihm steht. In einer Gesellschaft, in der Emotionen bedeutungslos scheinen, stößt der loyale Mitsoldat auf seine eigene Gefühlswelt.
Karin Boye (1900-1941) war eine schwedische Schriftstellerin und Lyrikerin, die in den 30er Jahren der subversiven Bohème in Berlin angehörte. „Kallocain” erschien 1940 und gilt als ihr Hauptwerk; es wird in einem Atemzug mit Aldous Huxleys „Schöne neue Welt” (1932) und George Orwells „1984” (1949) genannt.
Das Team des Theater Konstanz setzt immer wieder einen Schwerpunkt auf aktuelle Stoffe und Stücke zeitgenössischer Autor*innen. Das Verhandeln von gesellschaftlichen Konflikten ist uns wichtig und kann erlebbar machen, dass und wie unsere Wirklichkeit gemacht, hergestellt – und deswegen auch veränderbar ist. Diese Auseinandersetzung mit konfliktreichen Themen auf einer sinnlichen, gespielten Ebene kann und möchte bewegen.
Je nach persönlicher Sensibilisierung können solche Auseinandersetzungen als (zu) schmerzhaft empfunden werden. Im Sinne einer transparenten Kommunikation und im Bewusstsein darüber, dass Stückinhalte aufgrund von individuellen Erfahrungen verschieden erlebt werden, gibt es hier zusätzliche Informationen über Inhalte, die wir als sensibel einstufen. Diese Hinweise zu sensiblen Inhalten – auch Content Notes – weisen darauf hin, dass bestimmte Themen auf der Bühne verhandelt werden, die starke Reaktionen auslösen können. Ein Kritikpunkt an Content Notes ist, dass sie Teile der Inszenierung vorwegnehmen können. Im Sinne einer selbstbestimmten Entscheidung wird es im Folgenden jeder und jedem Einzelnen überlassen, die inhaltlichen Hinweise zu lesen oder nicht.
Kallocain
Content Note:
Die Inszenierung thematisiert physische sowie psychische Gewalt auf sprachlicher Ebene. Auf darstellerischer Ebene kommt es zu einer symbolischen Hinrichtung. Außerdem werden während einer kurzen Sequenz stroboskopähnliche Lichteffekte eingesetzt.
Pressestimmen
Awe treibt die Schauspieler in diesem Setting an eigene Grenzen. In diesen Extremen liegt die Stärke des jungen Regisseurs. (...) Ingo Biermann schöpft das vielschichtige Potenzial dieses Untertanen aus. Der Schauspieler lässt den Forscher in einem großartigen Monolog über den Sinn und die Folgen seines Wahrheits-Serums nachdenken. Stark tariert er die Balance zwischen Überzeugung und Eitelkeit aus. (...) In der Einheitsuniform, die Ausstatterin Anna Bergemann geschaffen hat, zelebriert sie Gleichschaltung bis zum Exzess. Auch mit dem modularen Bühnenbild ist Bergemann ein Kunstgriff geglückt. Anfangs wirkt der Raum wie ein Auge. Die schwere Konstruktion zitiert architektonische Grundmuster, wie man sie in Diktaturen findet. Dann öffnen sich die runden Formen. Sie verwandeln sich in eine Schlucht, die immer mehr Menschen verschlingt. Mit kaltem Rauch schafft Awe eine Atmosphäre, die Angst und Unsicherheit spiegelt. Philipp Koelges' Bühnenmusik zerfällt in metallene Kaskaden. Der Klangraum zieht den Menschen buchstäblich den Boden unter den Füßen weg. (...) Sarah Siri Lee König reißt ihrem weiblichen Gegenpart das letzte bisschen Wärme aus dem Herzen. Klug zeigt die Schauspielerin, wie ein Mensch ganz eins wird mit dem System. Dass Intendantin Karin Becker und ihre Dramaturgie am Theater Konstanz „Kallocain” für die deutschen Bühnen entdeckt haben, ist gerade in dieser Zeit ein ganz großer Gewinn.
Elisabeth Maier, Theater der Zeit, 29.1.24
Mit "Kallocain" nimmt Karin Boye eigentlich Orwells "1984" vorweg. Boye denkt die Auswüchse eines totalitären Staats radikal zu Ende. Hier werden nicht nur Taten und Worte kontrolliert, sondern Gedanken. (...) Das Theater Konstanz gibt diesem zu Unrecht hierzulande unbekannten Roman eine große Bühne. (...) Die Bühne selbst wird von drei wuchtigen Torbögen beherrscht, die in der Mitte eine runde Aussparung haben, als würde hinter der hintersten Wand ein riesiges Auge lauern (Ausstattung: Anna Bergemann). Die oberen Hälften der Torbögen werden ab und zu angehoben, dann wirkt es, als vergrößere sich das Auge, als würde der Staat noch mehr in einen hineinschauen. (...) Regisseur Swen Lasse Awe stellt die Menschlichkeit, nach der einige Figuren sich sehnen, ins Zentrum.
Julia Nehmiz, nachtkritik, 20.1.24
Ein imposantes Bauwerk (...) (Bühne: Anna Bergemann) kündet von der Macht des Weltstaates: Drei von Bühnennebel umwaberte Mauern umfassen ein Oval, das sich als Anspielung an das allsehende Auge in Orwells Roman „1984” verstehen lässt. (...) In Swen Lasse Awes von vielen optischen und akustischen Effekten geprägten Inszenierung erhält er einen sinnlich ansprechenden Rahmen. Die schauspielerischen Leistungen sind stimmig, mit einem vom eigenen Forscherehrgeiz aufrichtig überzeugten Ingo Biermann und Sarah Siri Lee König als vom Staat geformte Gebärmaschine, die plötzlich ihre menschliche Würde entdeckt.
Johannes Bruggaier, Südkurier, 22.1.24